"Wir wagen ein Experiment, denn wir wollen als Erste dabei sein, wenn Ihr Land beginnt, sich zu öffnen." | |
Mit diesen Worten eröffnete die ehemalige Präsidentin des Goethe-Instituts Jutta Limbach am 2. Juni 2004 im geschlossenen kommunistische Nordkorea die „Vermittlungsstelle für deutsche wissenschaftliche und technische Literatur im Goethe-Informationszentrum Pjöngjang“. Auch bekannt als Deutscher Lesesaal Pjöngjang, war diese außerordentliche Initiative möglicherweise von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Letztendlich existierte der Lesesaal nicht länger als fünf Jahre. Über eine Zeitspanne von zwei Jahren wurde der Inhalt des Raums ausgehandelt – während die nordkoreanische Regierung auf akademischer Fachliteratur zu Naturwissenschaft, Technologie und Medizin bestand, drängte das Goethe-Institut darauf, dass sich doch zumindest die Hälfte aller Bücher mit deutscher Kultur, Sprache, Literatur und Musik befassen sollten. Ganz wesentlich war, dass das örtliche Publikum freien Zutritt hatte und keinerlei Zensur stattfand. Später wurde jedoch bekannt, dass die nordkoreanischen Autoritäten probierten, Menschen den Zutritt zum Lesesaal zu verwehren, und dass diese auch versuchten, den Inhalt zu zensieren. Das Ergebnis war, dass der Lesesaal 2009 geschlossen wurde.
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Im Verlauf eines Wochenendes verändert sich das Goethe-Institut Amsterdam in den inzwischen geschlossenen Deutschen Lesesaal Pjöngjang. Diese temporäre Intervention ist eine imaginäre Verwandlung des jetzigen Gebäudes und wirft eine Reihe nichtgestellter Fragen auf, die sich während der Recherchen zu den politischen und historischen Umständen der Eröffnung und Schließung des Lesesaals Pjöngjang abzeichneten. Anstatt einfache Antworten zu finden, stieß ich bei meinen Erkundungen auf weitere Verwicklungen: Was sagt der Lesesaal als Geste über den eher optimistischen diplomatischen Zeitgeist im Jahr 2004? Auf welche Weise ebnete die Freundschaft zwischen der ehemaligen DDR und Nordkorea implizit und explizit den Weg für die Verhandlungen, die diesen möglich machten? Was bedeutete es für ein Land wie Deutschland, das nur 16 Jahre nach der Wiedervereinigung Selbstbewusstsein entwickelte, durch die Eröffnung eines Lesesaals in einem totalitären kommunistischen Regime wie Nordkorea für demokratische Werte zu werben? Wie definiert sich Deutschland mittels der weltweiten Aktivitäten des Goethe-Instituts neu, insbesondere im Hinblick auf seine eigene Vergangenheit – oder vielleicht trotz dieser? Und welche chamäleonartige Rolle müssen die Künste im kaleidoskopischen Feld politischer und diplomatischer Interessen spielen?
– Sara van der Heide
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FREITAG, 19. April
21:00Begrüßung durch Barbara Honrath 21:15Lesung von Auszügen aus Fantasy Residency in North Korea: Please don’t take off the lids. The pots are empty – ein Buch von Jooyoung Lee 22:15 Vorführung von Lars Laumanns Berlinmuren (2008) Lesung von Auszügen aus Fantasy Residency in North Korea: Please don't take off the lids. The pots are empty – ein Buch von Jooyoung Lee Während sie an Residency-Programmen auf der ganzen Welt teilnahm, begann Lee sich zu fragen, wie es wohl wäre, ein Gastkünstler in Nordkorea zu sein. Auf Grund der Unmöglichkeit, selbst in diese Region zu reisen, dachte sich Lee einen Phantasieaufenthalt in Nordkorea aus, ausgehend von ihren Erfahrungen des Lebens in Berlin. Korea und Deutschland zeigen nicht nur in ihrer geteilten Geschichte Parallelen auf, wie Lee im Verlauf des Projekts herausfand, das sie während eines zweimonatigen Arbeitsaufenthalts in Berlin entwickelte. Die Ergebnisse ihrer Forschungen – welche die Verwandlung eines Teils der nordkoreanischen Botschaft in eine Jugendherberge beinhalteten, wie auch Gespräche mit einem Nordkoreaner und einem Ostdeutschen, der nach Nordkorea gereist war – resultierten in einem Buch, das sich mit den Gegenständen und Geschichten Nordkoreas auseinandersetzt, denen Lee in Berlin begegnet war. Während der Lesung teilen verschiedene Darsteller ausgewählte Ausschnitte auf Koreanisch, Englisch und Deutsch mit dem Publikum, das auf diese Weise dazu aufgefordert wird, in die Erzählungen und die Erinnerungen an einen anderen Ort und eine andere Zeit einzutauchen und die Komplexität dieser veränderlichen und zeitweilig zusammengeführten Geschichten zu umarmen. Ausführende: Seungyong, Moon, Gwen Parry und Hartmut Wilkening Jooyoung Lee (Daegu, KR, 1971) ist ein Künstler lebt und arbeitet in Seoul, Südkorea. Berlinmuren (2008) von Lars Laumann Video, 23 min. Im Video Berlinmuren, gibt es drei Protagonisten: Zwei Frauen und die Berliner Mauer. Eine der Frauen, die behauptet mit der Berliner Mauer verheiratet zu sein, konstatiert: “Die Mauer hat nicht darum gebeten, gebaut zu werden, wie Menschen nicht darum beten, geboren zu werden.“ Wenn man die Mauer als beseeltes Ding betrachtet, so ist dies mit der Idee eines Lebenszyklus der Dinge verknüpft – sie werden geboren, wachsen, erlangen die volle Reife und sterben schließlich. Im Fall Deutschlands wurde die Mauer 1989 nach Ende des Kalten Krieges abgerissen und „starb“. Dieses Symbol der geteilten Geschichte Deutschlands ist jetzt nur noch in der Dokumentation und den Überresten zu erfahren. Im geteilten Korea dagegen ist die 250 km lange und 4 km breite Demilitarisierte Zone (DMZ) noch immer sehr lebendig. Lars Laumann (Oslo, NOR, 1977) ist ein Künstler lebt und arbeitet in Brüssel. |
SAMMSTAG, 20. April
20:00Gespräch zwischen Barbara Honrath und Charles Esche
21:15Filmprogramm:
Mensch und Kunstfigur (1969)
Doppelkonzert (1963)
Begegnungen (1969/70)
Das Deutsche Dilemma (1982)
Gespräch zwischen Barbara Honrath und Charles Esche
Barbara Honrath ist Direktorin des Goethe-Instituts Amsterdam. Charles Esche ist Direktor des Van Abbemuseums und hat viel Erfahrung mit kuratorischer Arbeit in postkommunistischen Kontexten. Das Gespräch dreht sich um die Bedeutung, die der internationale Kulturaustausch in totalitären Regimen haben kann, und befasst sich mit der Frage, welches Potenzial und welche Gefahren darin liegen, Kunst und Kultur als Katalysator einzusetzen, wenn es darum geht, Raum für Dialog zu schaffen. 2011 brachte das Van Abbemuseum Picassos Buste de Femme (1943) nach Ramallah, Palästina. Die Entfernung dieses Meisterwerkes aus seinem gewöhnlichen Kontext eines europäischen Museums wird zum Vergleichspunkt für die temporäre imaginäre Verwandlung des Goethe-Instituts Amsterdam in den deutschen Lesesaal Pjöngjang.
Filmprogramm
An zwei Abenden präsentiert Sascha Pohle ein Programm mit ausgewählten Filmen aus dem 16-mm-Bestand des Goethe-Instituts Amsterdam. Während die Ausstellungsarbeit von Pohle, Crippled Symmetry (Verkrüppelte Symmetrie), eine eher distanzierte und formalistische Annäherung an das Filmmaterial dokumentiert, erwecken die Vorführungen die Filme selbst – zuletzt gesehen vor Jahrzenten – zu neuem Leben. Die Zusammenstellung des gezeigten Filmmaterials stellt Auffassungen über visuelle Übersetzung heraus, ermöglicht aber gleichzeitig auch die Verbindung mit einer Vielzahl an Themen, die im weiteren Rahmen des Projekts The Goethe-Institut’s Reading Room Pyongyang: Between Object and Shadow artikuliert werden.
Am ersten Abend wird eine Gruppe Filme gezeigt, die sich mit Problemen in der weiten Welt befassen. Begegnungen und Doppelkonzert machen die Sprach- und Kulturaktivitäten des Goethe-Instituts in Nigeria, Ägypten und Indien in den 1970er Jahren anschaulich. Ein Gegenwartsprogramm, Das Deutsche Dilemma, verschafft Einblicke in die kulturellen Debatten um das geteilte Deutschland. Daneben findet sich Margarete Hastings Film über Oskar Schlemmers Triadisches Ballett, in dem die Einfassung der Figuren durch den Raum als visuelle Metapher für die Zusammenstellung dieses Programmabschnitts herhalten könnte.
Die Filme werden in Deutscher Originalfassung ohne Untertitel gezeigt.
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SONNTAG, 21. April
18:30Filmprogramm:
Reflektorische Farblichtspiele (1967)
Dr. Murkes gesammeltes Schweigen (1964)
Antithese (1965)
Boot aus Stein (1981)
21:15
Shadow Study #4 von Jasna Veličković
21:25
Deutscher Sang von Klarenz Barlow
21:55
Good Bach von Jasna Veličković
Filmprogramm
Der letzte Abend des Wochenendes ist Form und Material gewidmet: Von Kurt Schwerdtfegers Reflektorische Farblichtspiele und einer Fernsehverfilmung von Heinrich Bölls Dr. Murkes gesammeltes Schweigen zu Mauricio Kagels experimentellem Musikfilmstück Antithese sowie dem Film Boot aus Stein, der Hannsjorg Voths eindrucksvolles Projekt dokumentiert, bei dem er ein steinernes Boot in einer Pyramide, die auf dem Ijsselmeer trieb, baute.
Die Filme werden in Deutscher Originalfassung ohne Untertitel gezeigt.
Shadow Study #4 (2009) von Jasna Veličković
Für Klavier, vier elektromagnetische Drahtspulen/Hände, 7 min.
Shadow Study #4 baut auf Frederic Chopins Prélude op. 28 Nr. 4 in e-moll auf, die auf einer einfachen Melodie basiert, gleichzeitig aber eine Sprache komplexer Obertöne entwickelt. Veličković lenkt die Aufmerksamkeit der Zuhörer von der Melodie und Begleitung in Chopins Prélude zu den Resonanztönen, die das bespielte Instrument hervorbringt. In ihrem Stück wählen zwei Pianisten jeweils höchstens vier Noten von den bis zu 15 Noten pro Takt und bringen die Klaviersaiten zum schwingen, indem sie Drahtspulen platzieren, welche über diesen die Aufnahme von Chopins Prélude übertragen. Auf diese Weise wird die Obertonentwicklung der Prélude auf das akustische Phänomen der schwingenden Saiten ausgedehnt und eröffnet so unendliche Klangmöglichkeiten für Shadow Study #4.
Das Klavier – quasi ein „Abdruck” der Chopin-Prélude – dient als Werkzeug: Es übernimmt die Funktion eines Lautsprechers. Oder, wie man auf einem Metaniveau konstatieren könnte: Es wird zum „Post-Piano“. Letztendlich ist der gehörte Klang nicht mehr als ein Schatten eines bestehenden Musikstücks. Die Prélude selbst wird zu einer Art Ready-made, obschon im Prozess der Darbietung die alte auch eine neue Klangwirklichkeit hervorbringt.
Ausführende: Jasna Veličković und Nora Mulder
Jasna Veličković (Belgrade, SRB, 1974) ist Komponistin und experimentelle Pianistin. Sie lebt und arbeitet in Amsterdam.
Deutscher Sang von Klarenz Barlow
(Hörspiel, 30 min.)
Deutscher Sang ist eine Auftragsarbeit für die Hörspielabteilung des Hessischen Rundfunks, Frankfurt am Main. Das Thema des Hörspiels – Nationalismus – wird durch Barlow mit einem sicheren Sinn für Ironie neuinterpretiert, indem er alle Telefonbucheinträge, die mit dem Wort „deutsch“ anfingen, durch einen Engländer einsprechen ließ.
Ein zweiter Aspekt der Radioarbeit ist Haydns Emperor melodie, die als österreichische Hymne in Gebrauch war, bevor die deutschen Autoritäten sich diese 1922 als Nationalhymne aneigneten. Danach wurde das Stück durch das Naziregime übernommen und schließlich durch die heutige Bundesrepublik. In Barlows Werk wird Haydns Melodie auf einer mittelalterlichen Geige aufgeführt und als Obertöne notiert, was sie zwei Oktaven höher als normal erklingen lässt. Die Aufnahme wurde außerdem viermal so langsam gespielt, wodurch die Tonlage herabgesetzt und die Melodie verlängert wurde.
Danach wurden die zwei Aufnahmen als zwölfteiliger Kanon mit graduell abnehmender Zeitverzögerung aufbereitet, während das Volumen der Mitteltonfrequenzen in der gesprochenen Tonspur stetig reduziert wurde. Gegen Ende kulminiert das Stück in einem Schlusschoral – der Text der deutschen Nationalhymne, wie er bis zum Fall des Dritten Reichs gesungen wurde: „Deutsche Frauen, deutsche Treue / Deutscher Wein und deutscher Sang” Der Text wurde phonetisch rückwärts zur Haydn-Melodie eingesungen, die in der Art des 14. Jahrhunderts umgekehrt harmonisiert ist. Barlow veränderte anschließend die Bandrichtung, was in einem sich unbehaglich fortbewegenden Text über einer umgekehrten Melodie mit vorwärts gerichteter Harmonie resultierte.
Stimme: Tom Mohan
Violine: Margriet Tindemans
Chor: Ensemble Sequentia
Klarenz Barlow (Calcutta, IN, 1945) ist ein Komponist und Professor für Komposition an der University of California in Santa Barbara.
Good Bach (2001/2004) von Jasna Veličković
Für Klavier und CD, 4 min.
Ein Stück inspiriert durch Tractatus Logico-Philosophicus.
In diesem Werk wird eine Aufnahme der Aufführung von Bachs C Major Prelude und Fugue idurch Glenn Gould abgespielt, während die Pianistin, Veličković selbst, mit der Aufnahme interagiert, indem sie ihre eigene Komposition zum Gehör bringt. Für dieses Stück wurde eine statistische Methode auf die gleichen Noten wie die des Bachwerks angewandt – diese wurden von der tiefsten bis zur höchsten Tonlage neu angeordnet. Es unterscheidet sich damit von der Logik traditioneller Musikstile. Veličković problematisiert hier sowohl die Spieltechnik als auch Status und Funktion des Klaviers als Instrument. Insbesondere in diesem Stück wird die gewöhnliche Kette “Komponist-Partitur-Ausführender-Klang” abgewandelt; Bachs Noten werden zu einer Gruppe Spuren – ein Muster in der demontierten Medien- und Konzeptphänomenologie des Werks. Der Zuhörer wird demnach mit beiden Kompositionen gleichzeitig konfrontiert – in ihrer Überschneidung entsteht eine dritte.
Good Bach wurde bereits zu früherem Zeitpunkt durch den Pianisten Dante Boon im Goethe-Institut Amsterdam aufgeführt – am 3. Februar 2008, in der Konzertreihe Piano Lab.Amsterdam..
Klavier: Jasna Veličković
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Berlinmuren, Lars Laumann, 2008 | Shadow Study #4, Jasna Veličković, 2009 | Deutscher Sang, Klarenz Barlow, 1982 | A conversation with Kyung-chul Hyon, from the book "Fantasy Residency in North Korea:Please don't take off the lids. The pots are empty", Jooyoung Lee, 2010 |
Zur Farbenlehre; Farbe und Hintergrund (Nach Goethe), Sara van der Heide, 2011 | Crippled Symmetry, Sascha Pohle, 2013 | |
Design: Daniel Nørregaard & Moonsick Gang
Schrift: Gothic
Fotografien: Artists
Texte: Christina Li und Künstler
Redaktion der englischen Texte: Clare Butcher
Übersetzung: Jennifer Steetskamp (Deutsch), Yunjoo Kwak (Koreanisch)
The Goethe-Institut's Reading Room Pyongyang: Between Object and Shadow ist Teil des zweiten Jahrgangs vom Kunst Wochenende, initiiert vom Goethe Institut in Amsterdam
Das Projekt wurde mitfinanziert durch AFK (Stiftung für Kunst Amsterdam).
Das Projekt wurde ebenfalls möglich gemacht durch die großzügige Unterstützung von Barbara Honrath und Melanie Bühler, Barbara Mulzer, Wolfgang Schreiber, Mitarbeiterinnen des Goethe-Instituts Amsterdam, der Zentrale des Goethe-Instituts in München und Uwe Schmelter.
Die deutsche Marke Warsteiner, die eine starke Bindung zur internationalen Kunstszene hat, unterstützt das Ausstellungsprojekt im Goethe-Institut.
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